Manchmal braucht man einfach ein etwas Glück, um bei bestimmten Veranstaltungen dabei zu sein. Der Abend, den der Verleih von Blue End in dem kleinen Hinterhofkino Blow Up veranstaltet hat und bei dem ich fast zufällig anwesend war, war so ein Abend.
Zentrales Thema war der Film, eine Dokumentation über die Person, die hinter dem Projekt des Visible Human steckt. Ein Mörder, der nach seiner Hinrichtung eingefroren, in Millimeter dünne Scheiben geschnitten und fotografiert wurde - und heute im Internet für jedermann zur Betrachtung bereit steht und für die anatomische Wissenschaft ein Meilenstein bedeutete. Zu einem anschließendem Gespräch und Diskussion mit dem Publikum hatten der Regisseur des Filmes, ein Vertreter des Verleihs sowie der umstrittene Plastinator Gunther von Hagens geladen. Blue End Der Film beginnt mit dem Mord. Ein kaltblütiger und sinnloser Mord, der von der Exfrau des Täters und dem Staatsanwalt, der später die Anklage vertrat, aus dem Gedächtnis und dem Geständnis des Täters geschildert wird. Daraus entwickelt Kasics die ganze Geschichte des Paul Jernigan. Erzählt wird sie von vielen beteiligten Personen, hauptsächlich aber von Pauls Exfrau und seinem Bruder Bobby einerseits, dem Staatsanwalt und Dr. Spitzer, dem führendem Wissenschaftler im Visible Human Projekt andererseits. Der Film zeigt 90 Minuten lang nur diese Menschen und lässt sie von dem erzählen, was sie erlebt haben und wie sie es wahrgenommen haben - nie melden sich die Filmemacher selbst zu Wort. Aber trotzdem ist Blue End keine objektive Schilderung - das will der Film auch nicht sein. Im ersten, größeren Teil widmet sich der Film hauptsächlich dem Prozess, in dem Jernigan zum Tode verurteilt wurde - und bezieht damit deutlich Position gegen die Todesstrafe. Doch es ist nicht, wie so oft, ein Fall, in dem ein Unschuldiger verurteilt, ein rassistisches oder politisches Urteil gefällt wird. Es ist ein womöglich ganz alltäglicher Fall, wie er in Texas immer wieder passieren könnte, ohne dass dies besondere Aufmerksamkeit erregt: Ein Kleinkrimineller (Jernigan hatte sich spontan zu einem Einbruch entschlossen, weil er gerade eine Mikrowelle brauchte), der wahrscheinlich ein Problem mit Alkohol hat, schon zweimal wegen Einbruchs im Gefängnis saß und nun befürchten muss, lebenslänglich hinter Gittern zu kommen, tötet auf dilettantischste Art einen alten Mann, von dem er glaubt, dass der ihn wiedererkennen könnte. Die Verhandlung dauert keine zwei Tage, die Geschworenen benötigen zur Beantwortung der zwei Fragen, die Jernigan in die Todeszelle bringen, knapp 20 Minuten Beratungszeit. "The good guys shoot the bad guys" charakterisiert Kasics das Rechtsverständnis, das er selbst als "Stammtisch" bezeichnet. Die überforderten oder desinteressierten Verteidiger, der Staatsanwalt, dem ein Todesurteil eine Beförderung verspricht, die Art und Weise wie mit jemandem umgegangen wird, der hierzulande höchstwahrscheinlich in eine therapeutische Anstalt gekommen wäre, ist schockierende Realität. Im zweiten, leider kürzeren, Teil des Filmes legt der Regisseur sein Augenmerk auf das, was mit Jernigan nach dessen Hinrichtung geschah. Auch hier ist Kasics kein objektiver Wissenschaftsjournalist. Mehr oder weniger sugesstiv stellt er die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Wissenschaft und dem Preis, der für wissenschaftliche Erkenntnisse bezahlt werden kann. Wenn Dr. Spitzer mit technischer Begeisterung von Problemen beim Zersägen erzählt, von besonders gelungenen Bildern schwärmt oder die neuen Räumlichkeiten für seine Gefrierkammern besichtigt, dann drängt sich in den sterilen Gängen und Labyrinthen und vor obstrusen Sägen und Gefrierschränken mitunter schon der Eindruck eines modernen Frankenstein auf. Nicht weniger erschreckend ist die Schilderung der Angehörigen, die von der 'Wiederauferstehung' Jernigans aus den Medien erfuhren: Offensichtlich wurde innerhalb des Projektes derartig unverantwortlich gearbeitet, dass der Name dessen, der eigentlich hätte für immer anonym bleiben müssen, schnell an die Medien drang. So wurde Jernigan in den Fernseh-Shows zum Serienkiller, der seinen Körper diesem Projekt zur Verfügung gestellt hat. Dass es sich keineswegs um einen Serienkiller handelte und das er (auf Anraten der Geistlichen im Gefängnis) lediglich eine 'Doner-Card' unterschrieben hatte, die in Texas quasi universell für alles gilt (von Organtransplantationen bis zum Lehrmaterial für angehende Mediziner) und dass er am Visible Human Projekt fast sicher nicht hätte 'teilnehmen' wollen, bleibt unbeachtet. Auch gibt es für die Hinterbliebene keinen Platz um von dem Toten Anschied zu nehmen. Kurz nach dessen Hinrichtung konnten sie ihn in die Leichenhalle sehen (aber nicht zu lang, die Bearbeitung des Körper eilte), am Ende aber fand Jernigan das titelgebende Blue End: In blauer Gelatine eingefroren, anschließend Millimeterweise abgetragen, blieb nur blaues Gekräusel, blauer Schnee übrig. Diskussion Der Film hätte ohne die Ausführungen des Regisseurs Kaspar Kasics bedeutend weniger Eindruck hinterlassen. Und die ethischen Probleme, mit denen sich die anatomische Wissenschaft auseinander setzen muss, wären ohne die Schilderungen des Plastinators Gunther von Hagens weniger präsent geworden. Überraschenderweise war von Hagens erste Bemerkung nach dem Film die, dass er sehr froh sei über diesen Film. Zum einen würde dieser ganz konkret die grundlegende und ausnahmslose Notwendigkeit der (irreversiblen) Anonymisierung der Körper zeigen und zum anderen würde er ansatzweise deutlich machen, wie die Wissenschaft mit der Ware Mensch umgeht und welche Probleme im Konfliktbereich Medizin & Ethik entstehen. So schilderte er beispielhaft den Fall eines anatomischen Atlasses, der bis heute ein Quasi-Standardwerk ist und sehr genaue und detaillierte Angaben und Darstellungen enthält. Dessen Urheber nun war in der NS-Zeit tätig und gleichzeitig großer Anhängers Hitlers - was nicht nur seiner Karriere dienlich war, sondern auch den Verdacht nahe legt, dass er bei seiner Arbeit auch Anschauungsmaterial hingerichteter Opfer aus den Konzentrationslager verwendete. Die Diskussion über die weitere Verwendung und den Druck von diesem Körperatlas führte dazu, dass dort eine Seite eingefügt wurde, welche den Leser auf den Sachverhalt hinweist. Dr. Spitzer erklärt klar, dass es für ihn kein Problem gewesen wäre, wenn derjenige, dessen Körper er bearbeitet, als Unschuldiger hingerichtet worden wäre. Wenn jemand (mit ausgefüllter 'Doner-Card') beim Bau eines Hochhauses verunglückt, so seine Argumentation, so ist dieser auch unschuldig und dessen Körper würde trotzdem genutzt werden. Kasics formuliert seine Ansicht deutlich, wenn er meint, dass Spitzer über den Mauern des Gefängnisses für zum Tode Verurteilte kreist. Auch in der BRD war es bis in die achtziger Jahre üblich, dass 'Sozialleichen' - also die Körper von z.B. in Gefängnissen verstorbenen - von der Wissenschaft genutzt wurden; die Diskussion um die kürzlich aufgetauchten, konservierten Gehirne von RAF-Terroristen, von deren Existenz die Angehörigen bis dato nichts wussten, zeigt, dass dies kein Problem ist, dass nur andere haben. Kasics ist so fair, den Zuschauer im Film auch an der Faszination teilhaben zu lassen, die das Visible Human Projekt und die heutigen technischen Möglichkeiten bieten. Die virtuelle Reise durch den Körper, der keine Geheimnisse mehr hat und uns all das offen legt, von dem der Laie gemeinhin nur abstrakt spricht, ist beeindruckend - und man glaubt schnell, dass es auch eine Sensation und Hilfe für die medizinischen Wissenschaft darstellt. Und so bleibt, auch wenn Kasics die These äußert, dass ein Projekt wie der Visible Human grundsätzlich nur mit der Übertretung ethischer Grenzen zustande kommen kann, am Ende die Frage, wie weit die Wissenschaft, die uns schmerzfrei alt und gesund werden lassen kann, und deren Nutzen für die Menschen vielleicht mehr als alle anderen Feldern über Zweifel erhaben ist, gehen darf, in ihrem Bestreben neues Wissen zu schaffen… Links: * Das Visible Human Projekt: http://www.nlm.nih.gov/research/visible/ * Gunther van Hagens Körperwelten: http://www.koerperwelten.de/ |