kornecke.de » cinema   » kritik



Berlinale 2005


Ein Überblick, eine Bestandsaufnahme, eine Liebeserklärung.



Was die Berlinale von den beiden anderen europäischen A-Festivals in Cannes und Venedig unterscheidet und damit einzigartig macht, das ist zum einen ihr ungeheuer breites Angebot und zum anderen ihre Öffentlichkeit. Die Vorführungen der Filme, die um die Goldene Palme und den Goldenen Löwen streiten, sind nicht öffentlich, nur den Jurys und akkreditierten Teilnehmern vorbehalten - die Filme, die sich um den Goldenen Bären bewerben, können hingegen von jedermann (so er 18 Jahre alt ist und weder die Zeit noch die sieben Euro pro Vorstellung scheut) besucht werden. Nur das Filmfestival in Berlin bietet der Öffentlichkeit Zugang zu den Kinosälen. So dringt das Festival über Tageszeitungen und Szenemagazine nicht nur in den Alltag von Cineasten und Promijägern sondern zu einem großen Teil der Bevölkerung vor. Dazu kommt die räumliche Dezentralisierung, die trotz des Schwerpunktes „Potsdamer Platz” dafür sorgt, dass die Spielstätten relativ großzügig über die ganze Stadt verteilt sind. Und das - vor allem in den Medien - bunte Festivaltreiben ist im grauen Winter höchst willkommen.

Das Programm der Berlinale beschränkt sich nicht auf die 26 Filme im Wettbewerb. Die Veranstalter, unter der Leitung von Dieter Kosslick, sichten in der Vorbereitung einige hundert Filme, die besten davon landen im offiziellen Wettbewerb. Die „zweite Garde” der Filme läuft im 'Panorama', der umfangreichsten Sektion der Berlinale. Während die meisten Filme im Wettbewerb meist profiliert genug sind, um nach dem Festival den Sprung in die regulären Kinos zu schaffen, so ist dies für die Panorama-Filme keineswegs sicher. Die Aufführung in der Panorama-Reihe ist für viele Filme und Filmemacher die Chance, durch positives Feedback von Kritikern oder Publikum einen Verleih und damit eine breite Öffentlichkeit zu finden.


Dieter Kosslick hält nach den besten Filmen Ausschau

Eine ähnliche Funktion erfüllt das 'Forum des internationalen jungen Films'. Werke von jungen Regisseuren, oft Erstlings- oder Abschlussfilme, kommen hier zur Aufführung. Dieses 'Forum' ist für den Zuschauer zweifellos die spannendste Sektion des Festivals. Vom Animations- bis zum Experimentalfilm findet sich hier alles - in ebenso weit gestreuter Qualität. Über die berühmten „Perlen” kann man hier genauso stolpern wie über unsäglich Langweiliges oder Unverständliches.
Junges Kino findet sich auch in der jüngsten der ständigen Berlinale-Sektionen, der 'Perspektive Deutsches Kino'. Gedacht als Platz für Nachwuchsförderung, werden hier nicht nur Filme gezeigt - auch Workshops mit etablierten Filmemachern und Verantwortlichen von Filmhochschulen und der Filmförderung finden im Rahmen des Festivals statt.

Desweiteren gibt es die 'Retrospektive', die jedes Jahr mit einem eigenen Schwerpunkt alte Glanzstücke der Kinogeschichte zur Wiederaufführung bringt. Das 'Kinderfilmfest' und verschiedene einmalige Veranstaltungen - wie dieses Jahr 'Selling Democracy - Winning the Peace' - komplettieren das Programm.
Insgesamt laufen in den zehn Tagen an dreizehn Spielstätten - darunter die größten Multiplexe der Stadt - einige hundert Filme. Unmöglich, davon mehr als einen Bruchteil zu sehen....

Mit dem Wechsel der Festivalleitung vor vier Jahren von Moritz de Hadeln, der inzwischen das Festival in Venedig leitet, zu Dieter Kosslick kamen auch verstärkt Glamour und Promis nach Berlin. Mir der Vorverlegung - in die zeitliche Nähe zur Berlinale - der Oscarverleihung im letzten und auch in diesem Jahr kommen aber immer weniger amerikanische Schauspieler und Regisseure nach Berlin; die Werbung im Kampf um die kalifornische Auszeichnung ist wichtiger. So stand Dieter Kosslick dieses Jahr zwar nicht wie im Vorjahr allein auf dem roten Teppich als es zum Eröffnungsfilm ging, doch der Glamour-Faktor nimmt zweifellos ab.
Ironischerweise besinnt sich das Feuilleton gerade in diesen Tagen darauf, dass es bei einem Filmfestival weniger um Stars als vielmehr um Filme geht. Und so muß sich der in der Vergangenheit zumeist sehr gelobte Kosslick nun vorwerfen lassen, er bemühe sich zu sehr um die Stars und verliere das wesentliche aus den Augen. Doch dies wird den sympathischen kleinen Mann mit dem eigenartigen Englisch kaum treffen. Kosslick weiß, dass er einen guten Job macht.

Doch auch was die Besetzung der Jury angeht, scheinen die Berliner Journalisten dieses Jahr ihre cineastische Ader entdeckt zu haben: Unter der Leitung von Roland Emmerich, der (bisher?) weniger mit klassischen Festivalproduktionen als vielmehr handfestem Actionkino (Independence Day, The Day after Tomorrow) aufgefallen ist; besetzt u.a. mit dem Modeschöpfer Nino Cerruti und der Schauspielerin Bai Ling, die bislang vor allem durch ihre luftige Garderobe aufgefallen ist. Das soll eine kompetente Jury sein? Wo steckt da die Kompetenz? - fragt sich mancher Kolumnen-Autor.


Jurymitglied Bai Ling am Eröffnungsabend

Und welchen Filme wird diese Jury auswählen? Das (junge) Deutsche Kino scheint dieses Jahr gut aufgestellt: Mit Gespenster (Christian Petzold), One Day in Europe (Hannes Stöhr) und Sophie Scholl - Die letzten Tage (Marc Rothemund) sind allem Anschein nach drei hochklassige Filme vertreten. Insbesondere letzterer scheint im Rennen um den Goldenen Bären gut positioniert - ebenso wie die Hauptdarstellerin Julia Jentsch in ihrer Rolle als Sophie Scholl. Nach Gegen die Wand im letzten Jahr wäre dies gar das zweite Mal in Folge, dass ein deutscher Film den Wettbewerb gewinnt.
Doch auch wenn es schwer fällt, Filme einzuschätzen, die erst als Weltpremiere laufen werden (16 der insgesamt 26 Beiträge), so scheint starke Konkurrenz sicher: Tickets, unter der Mitwirkung von Ken Loach entstanden; Sometimes in April, ein Film über die verschiedenen Schicksale zweier Brüder während des Bürgerkrieg in Ruanda; Hotel Rwanda, ebenfalls vor dem Hintergrund des Bürgerkrieges und ein Dokument des Versagens internationaler Verantwortung; Paradise Now, ein Film über zwei palästinensische Selbstmordattentäter oder auch Wes Anderson neuer Streifen Life Aquatic with Steve Zissou, eine Parodie(?) auf Jacques Cousteaus Naturfilme, mit Bill Murray in der Hauptrolle prominent besetzt - und dazu einige Filme aus Asien oder Südafrika, von denen man sich komplett überraschen lassen wird. Dass sich die Berlinale ausdrücklich als politisches Festival versteht, mag die Entscheidung nicht unbedeutend beeinflussen - ob sie derart symbolisch ausfallen wird wie in Cannes, wo die Goldene Palme für Fahrenheit 9/11 für einige Diskussionen sorgte, bleibt jedoch abzuwarten.

Noch eine letzte Anmerkung zu einem nicht unwesentlichen Aspekt: Vier von etwa zehn Millionen Euro der Festival-Kosten kommen aus Kartenverkauf, Fördergeldern der Filmförderung, von Sponsoren (welche sich allerdings zumeist mit Sachleistungen beteiligen) und anderen Quellen. Die restlichen sechs Millionen stammen aus dem Budget der Kulturstaatsministerin Weiss - alles in allem scheint es aber, dass diese sechs Millionen Euro aus Steuergeldern nicht nur langfristig gewinnbringend, sondern vor allem auch sinnvoll investiert sind.